hr-iNFO Büchercheck: 36,9° von Nora Bossong

hr-iNFO Büchercheck: 36,9° von Nora Bossong

10.09.2015

Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, ist eine der jungen Schriftstellerinnen, die sich besonders mit dem Thema Macht und Machtstrukturen in der Gesellschaft auseinandersetzen. In ihrem neusten Roman, er heißt 36,9°, befasst sie sich mit einem italienischen Theoretiker der Macht, dem Philosophen und Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens Antonio Gramsci.
hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Dieser Roman erzählt zwei Geschichten auf zwei historischen Ebenen. Da ist der kleinwüchsige, aber umso intelligentere Antonio Gramsci, der in den 1920er Jahren den kommunistischen Widerstand gegen Mussolini anführt, und diesen mit Gefängnis und schließlich dem Tod bezahlt. Und da ist Anton Stöver, ein gescheiterter Göttinger Wissenschaftler, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Rom reist, um ein verschollenes Gefängnistagebuch Gramscis zu finden. Die Geschichte dieser beiden Männer ist verbunden durch das Thema der Liebe, denn die Liebe ist das, was den Intellektuellen Gramsci Anfang der 20 Jahre an der Allgemeingültigkeit seiner kommunistischen Vision zweifeln lässt, während Anton Stöver, ein selbstbezogener Westentaschencasanova, gar nicht mehr weiß, was gesellschaftliches Engagement bedeuten kann.

Wie ist es geschrieben?
Eindringlich, wenn es um die Karriere und das Schicksal Antonio Gramscis geht. Sein modernes Alter Ego ist dagegen weniger differenziert gestaltet. Anton Stöver ist ein Narzisst und Macho, dem man eigentlich gönnt, dass seine Liebesbeziehungen genauso scheitern wie seine wissenschaftliche Karriere. Das ist oft ein bisschen klischeehaft, gleichzeitig aber auch immer wieder für witzige Passagen gut, wenn etwa erzählt wird, wie dieser Sohn einer überzeugten Bremer Marxistin zu seinem Namen gekommen ist:
Ob aus Rache oder aus plötzlich doch aufbrechender Mutterliebe, Ilsa schreckte nicht davor zurück, mich, als alles überstanden war, nach Antonio Gramsci zu benennen. Tonio, immerhin, verbat ihr mein Vater: Tonio Stöver! Ich bitte Dich! Nenn ihn doch gleich Thomas Mann! Sie hatte sich von ihm nie viel sagen lassen, aber durchgesetzt hatte er sich am Ende doch, und so wurde aus mir Anton. Anton Stöver.

Wie gefällt es?
Mir hat’s gefallen. Mich hat dieser Roman gepackt und das vor allem durch die tragische Figur des Antonio Gramsci. Der Roman endet mit einem Dilemma, das da lautet: Mit Liebe ist eigentlich kein Staat zu machen, aber ein Staat, in dem die Liebe keinen Platz hat, wäre nicht zu ertragen. Darüber kann man lange nachdenken.

hr-iNFO

 

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gebundenes Buch, 320 S.
Sprache: Deutsch
Carl Hanser Verlag
ISBN: 9783446248984