hr-iNFO Büchercheck: Ikarien von Uwe Timm

hr-iNFO Büchercheck: Ikarien von Uwe Timm

16.11.2017

Uwe Timm ist ein Schriftsteller, der die Untersuchung der deutschen Vergangenheit immer wieder mit der Erkundung der eigenen Familiengeschichte verbindet. So auch in seinem neusten Roman „Ikarien“. hr-iNFO-Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
In „Ikarien“ rekonstruiert Uwe Timm die Geschichte von Alfred Ploetz, dem Großvater von Uwe Timms Ehefrau. Er war Mediziner und im 19. Jahrhundert zunächst ein begeisterter Sozialutopist. Als solcher besuchte er die sogenannten „Ikarier“, eine Kommune im amerikanischen Iowa. Wieder in Deutschland wandte sich Plötz der Rassenforschung zu und wurde schließlich zum Stichwortgeber für den Massenmord der Nazis an Kranken und Behinderten im Namen der sogenannten Rassenhygiene. Was lässt einen Idealisten und Utopisten zum furchtbaren Mediziner werden, an welchen Punkt schlägt Idealismus in Menschenverachtung um – das sind die Leitfragen dieses Romans.

Wie ist es geschrieben?
Uwe Timm erzählt aus der unmittelbaren Nachkriegsperspektive, er erzählt aus der Sicht eines jungen deutschstämmigen US-Soldaten, der den Auftrag erhält, im zerstörten Deutschland die Forschungsergebnisse des Eugenikers Ploetz zu sichern. Diese Figur des Michael Hansen – wie er heißt – erlaubt es Uwe Timm, die Geschichte in klar konturierten, spannungsvollen Gegensatzpaaren zu erzählen – da ist sein Freund George, der sich bald auf das Beobachten von Vögeln beschränkt und deren Vielfalt als Gegenentwurf zum Einheitsdenken der Nazis begreift. Und da ist Wagner, der ehemalige Weggefährte von Ploetz, der zum überzeugten Sozialisten wurde und die Alternative zu NS-Ideologie vom Recht des Stärkeren so formuliert:

„Nein, es sind gerade die Schwachen, die von der Unvollkommenheit wissen, es sind die Schwachen, die in sich die Hoffnung tragen, dass die dumpfe, vor Kraft und Blut dampfende Natur nicht im Recht ist. … Es sind nicht die in Saft und Kraft Stehenden, sondern die Verstümmelten, die an sich und dieser Welt Leidenden, die das Licht der Erkenntnis mit sich tragen. Die Schwachen sind die Starken, weil sie nach Gerechtigkeit verlangen.“

Wie gefällt es?
Ikarien ist ein Roman, den ich mit großer Spannung und teilweise auch mit Bestürzung gelesen. Zu erfahren, mit welcher Überzeugung sich Mediziner gegen jedes Mitleid immunisiert haben, wie sie Kinder und Hilfsbedürftige im Dienste einer Ideologie ermorden ließen und auch nach dem Kriegsende teilweise immer noch der Euthanasie das Wort redeten, ist schockierend. Teilweise war mir dabei die Gegenüberstellung von Gut und Böse allerdings zu schematisch.
Und trotzdem, es ist ein Buch, das genau zeigt, wie eine Einstellung, die nur das Wohl des Volkes und nicht das Schicksale der Einzelnen im Blick hat, zwangsläufig in die Unmenschlichkeit führt. Insofern auch ein Buch, das sehr aktuell ist und dem ich viele Leser wünsche.

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gebundenes Buch, 512 S.
Sprache: Deutsch
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG
ISBN: 9783462050486