hr-iNFO Büchercheck: Kindeswohl von Ian McEwan

hr-iNFO Büchercheck: Kindeswohl von Ian McEwan

07.01.2015

Als Ian McEwans neuer Roman Anfang September in England und Irland herauskam, war das ein Ereignis. Die großen Zeitungen widmeten Autor und Werk ganze Seiten - sicheres Anzeichen für die hohe Relevanz von Autor und Thema. Der Roman heißt „Kindeswohl“. hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat ihn gelesen.

Worum geht es?
Eine Familienrichterin am Londoner High Court ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Wohlhabend, anerkannt, ja bewundert in ihrer Fachwelt. Aber privat steht sie vor dem Abgrund. Ihr Mann kündigt ihr eine Affäre an, weil ihre kinderlose Ehe leidenschaftslos geworden ist. Eine starke, rationale Frau ganz schwach. Da tritt ein neuer Fall in ihr Leben. Ein junger Mann, noch nicht ganz 18, ist an Leukämie erkrankt. Er braucht dringend eine Bluttransfusion, damit er wegen der Chemotherapie nicht bleibende Schäden erleidet oder sogar stirbt. Doch der Junge und seine Eltern verweigern die Transfusion. Sie sind Zeugen Jehovas. Ihre Religion verbietet die Transfusion. Die Klinik beantragt beim Gericht eine Zwangsbehandlung. Die Richterin hört die verschiedenen Seiten, die Experten und besucht dann den Jungen im Krankenhaus. Und dann entscheidet sie für die Transfusion. Der Junge überlebt, sucht die Nähe der Richterin, aber die ist zu unempathisch, die Bedürfnisse des Jungen zu erkennen. Sie kann nicht aus ihrer Rolle heraus. Was dann passiert, verändert sie und gibt ihrem Leben eine Wendung.

Wie ist es geschrieben?
Ian McEwan ist ein großartiger Erzähler. Mit wenigen Sätzen baut er Szenen mit starker Atmosphäre auf, Sätze, die immer wieder auf kleine Höhepunkte hinsteuern, in denen Charaktere plastisch hervortreten oder Inhalte auf den Punkt gebracht werden. Diese Sätze kommen leichtfüßig daher, haben es aber in sich. Er entlarvt zum Beispiel in einem inneren Monolog die Beschränktheit der Richterin.

Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, dabei war das Gesetz eindeutig, sein Wohl hatte ihr als oberste Richtschnur zu dienen. Wie viele Seiten wie vieler Urteile hatte sie diesem Begriff gewidmet? Das Kindeswohl, das Wohlbefinden eines Kindes ist etwas Soziales. Kein Kind ist eine Insel. Sie hatte geglaubt, ihre Verantwortung ende an der Tür des Gerichtssaals. Aber wie sollte das gehen? Er war zu ihr gekommen, er wollte von ihr, was jeder will und was nur aufgeklärte Menschen – nicht das Übernatürliche – geben können: Sinn.

Wie gefällt es?
„Kindeswohl“ ist ein sehr gutes Buch, unterhaltsam und tiefschürfend. Wir Leser können viel erfahren über die Möglichkeiten des Rechts, aber auch über seine Begrenztheit. Dass es steht und fällt mit den persönlichen Kompetenzen seiner Anwender. Darüber, dass berufliche Größe nicht menschliche Größe ist. Wir erfahren wie so oft bei McEwan einiges über die britische Gesellschaft unserer Zeit, zum Beispiel über verhaltensstiftende Rollenbilder oder Traditionen, die bei uns undenkbar sind. Und wir lernen Menschen kennen, die fatale Fehler machen, aber aus ihnen lernen.

 

 

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Leinen, 224 S.
Sprache: Deutsch
Diogenes Verlag AG
ISBN: 9783257069167