Stimmen aus Glas (gebundenes Buch)

Stimmen aus Glas

The End of Manners

Roman

19,95 €
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Bibliographische Informationen
ISBN/EAN: 9783896673824
Sprache: Deutsch
Seiten: 317 S.
Fomat (h/b/t): 3.1 x 21.9 x 14.3 cm
Bindung: gebundenes Buch

Autorenportrait

Francesca Marciano wurde 1955 in Rom geboren. Sie arbeitete zunächst als Schauspielerin, Regisseurin und dann als Korrespondentin des italienischen Fernsehens in New York. Für ihre Filmdrehbücher (z.B. "Ich habe keine Angst", 2003) erhielt sie u. a. den "

Leseprobe

»SIE WERDEN UNS ERST in letzter Minute reinlassen, und hier draußen sind es mindestens zehn Grad minus.« Wir standen alle reglos im Schneetreiben, draußen vor dem Flughafengebäude, hielten unser Gepäck fest und starrten auf das einzige Lebewesen, das sich in dieser eingefrorenen Szenerie bewegte. Imo Glass natürlich. Die mit langen Schritten über den Parkplatz stakste, den Blick zu Boden gesenkt, und in ihr Handy schrie. »Was hast du gesagt.?« Sie lachte, warf den Kopf zurück, wobei sie die Kehle entblößte, und zog ihren pakistanischen Prachtschal um die Schultern zurecht. »Ach so. Nein, keine Ahnung. Wahrscheinlich wegen Autobomben, Selbstmordattentätern, was weiß denn ich.« Die westlichen Passagiere, steifgefroren trotz ihrer Daunenjacken und Wollmützen, starrten wie hypnotisiert zu ihr hin, ohne große Sympathie, wie mir schien. Vielleicht verdross es sie, wie demonstrativ Imo bei dieser eisigen Temperatur mit dünnem Schal, Jeans und Halbschuhen durch den Schnee stapfte. Oder es ärgerte sie, wie Imo immer wieder über die Witze des mysteriösen Teilnehmers am anderen Ende gackerte und die sorgenvolle Miene, die uns andere verband, so gänzlich vermissen ließ. Die afghanischen Flugpassagiere - alles Männer und in der Minderzahl - beäugten sie, obwohl in ihren Pattus auch nicht gerade wetterfest gewandet, mit kaum verhohlener Feindseligkeit. Eine Frau, die vor aller Augen ins Telefon kreischte und krakeelte, als stünde sie auf der Bühne, entsprach nicht gerade ihrer Vorstellung von sittsamem Benehmen. »Dummerweise hab ich heute Morgen meine ganzen warmen Sachen verschenkt. Was? Kannst du mich noch hören?. Ja, der Putzfrau in der Pension, und nun friere ich mich zu Tode. Hallo!. Kannst du mich hören? Kannst du mich hören?« Hanif beobachtete sie mit besorgter Miene. Er nickte mir mit einem kurzen Lächeln zu in seiner mechanischen Art, wie um mir zu versichern, dass alles in Ordnung sei, doch ich sah ihm an, dass er ebenfalls ziemlich genervt war. »Sie hatte nur so einen dünnen Pulli an und Plastiklatschen, also hab ich ihr meinen Mantel und meine Stiefel gegeben, und meine Wollsocken auch. Was?. Demian? Die Verbindung bricht zusammen. Demian? Kannst du mich hören? Ja, jetzt hör ich dich wieder. Was hast du gesagt?. Nein, ich dachte, ich brauch sie nicht mehr, ich hatte ja keine Ahnung, dass die uns hier drei Stunden in der klirrenden Kälte rumstehen lassen würden!« Kaum hatte Imo ihr Handy zugeklappt, nahm ihr Gesicht wieder den ernsten, leicht überheblichen Ausdruck an, den es normalerweise hatte. Sie gesellte sich zu mir in der Menge der kältestarren Passagiere. »Scheiße, Mann, ich frier mir den Arsch ab, wo steckt denn Hanif?« Ich zeigte auf Hanif, der ein paar Schritte weiter gerade einen hochgewachsenen Mann in schlammfarbener Uniform mit einem Schnauzbart ä la Stalin begrüßte. Sie zupfte ihn am Ärmel. »Entschuldige, Hanif, aber kannst du uns dort nicht vielleicht irgendwie reinschleusen? Ich erfriere ohne meinen Mantel.« Hanif nickte. Er beriet sich auf Dari mit dem uniformierten Schnauzbart, wobei er seine unterwürfigste Miene aufsetzte. Der Schnauzbart nickte bedeutungsvoll und rief etwas zu den Soldaten am Schlagbaum hinüber, der uns den Zugang zum Flughafengebäude versperrte. Es folgte eine weitere Runde Höflichkeitsfloskeln, wechselseitiges Vorstellen und ausdauerndes Händeschütteln. Der Schlagbaum ging hoch, und Imo Glass, Hanif und ich wurden unter den nun offen feindseligen Blicken der fünfzig in den eisigen Wind gemeißelten Passagiere mit unseren Koffern im Schlepptau über den Parkplatz zu dem Gebäude geführt. An der Tür standen noch ein paar schwer bewaffnete Wachen. Nach kurzer Beratung und gebührender Kenntnisnahme von Hanifs Papieren ließen sie uns eintreten. Drinnen sah die Halle aus wie die menschenleere Lobby eines geisterhaften Sowjetbaus: keine Check-in-Schalter, keine Fluglinienschilder, keine Heizung. Nur dunkler Marmor und gelöschte Lichter in der Eiseskälte.