Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem /That bodies speak has been known for a long time (gebundenes Buch)

Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem /That bodies speak has been known for a long time - Cover
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Bibliographische Informationen
ISBN/EAN: 9783901107436
Sprache: Englisch
Seiten: 168
Fomat (h/b/t): 23.0 x 16.0 cm
Auflage: 1., Aufl.
Bindung: gebundenes Buch

Beschreibung

Dass die Körper sprechen, auch das wissen seit langem.* Hemma Schmutz, Tanja Widmann Dieser Satz als Titel von Ausstellung und Katalog leitet ein Thema ein: den Körper in seiner Sprachlichkeit. Beim Lesen dieses Zitats von Gilles Deleuze ergeben sich zwei Denkansätze: der Verweis auf ein Wissen, das bereits etabliert – vielleicht auch fixiert – scheint, und die gleichzeitige, implizite Wendung, dass dieses Wissen neuerlich verhandelt werden kann: In welchem Sinn produzieren Körper also Sprache, und wie werden sie selbst von ihr erfasst und definiert, welche Aktionsmöglichkeiten eröffnen sich? Der Körper, betrachtet in einem Detail – der Geste Wir nähern uns dem sprechenden Körper diesmal über den Blick auf einen Ausschnitt seiner Möglichkeiten, die Geste, an. Bereits in der in 79 Bildtafeln angelegten kulturwissenschaftlichen Studie, dem Mnemosyne Atlas (1925-29) zeigt Aby Warburg die für gegensätzliche Interpretationen offene Struktur der Geste: In der vergleichenden Montage von kunstgeschichtlichen Werken der Antike und Renaissance wurde für Warburg deutlich, dass die von ihm so bezeichneten Pathosformeln – die in Gesten formulierte heftige Bewegung des Körpers durch Emotionen – im Laufe der Zeit mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden können. So kann dieselbe Geste Furcht wie Euphorie bedeuten, Trauer wie Freude, Befreiung wie Verfall. Dies führt zum Verständnis der Geste in ihrer Zitatform. Im Ausdruck der Geste liegt also weniger die Expression der Innerlichkeit einer einzelnen Künstlerin, eines einzelnen Künstlers, denn ein sprachlicher Akt in seiner Wiederholbarkeit. Darin liegt die Möglichkeit der neuerlichen Interpretation bzw. Auslegung und das performative Potenzial. In den letzten Tafeln des Atlas löst Warburg sich von rein historischen Ansätzen, bringt zeitgenössisches Bildmaterial ein und zeigt die Pathosformeln in ihrer alltäglichen, banalen Vervielfältigung. Die zu Zeichen geronnenen Gesten können je nach Kontext aufgenommen und interpretiert werden. So stellen sich ganz grundlegende Fragen: In welche Art der (Macht-)Rhetorik ist die Geste eingebunden, durch welchen Diskurs wird sie hervorgebracht, wer setzt und interpretiert sie zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte? Zu dieser für neue Bedeutungen offenen Wiederholbarkeit fügt sich die Möglichkeit, in der Geste widersprüchliche Bedeutungen zu fassen. Im bereits zitierten Text beschreibt Gilles Deleuze eine Geste der Lukretia folgendermaßen: „Zum Beispiel: Ein Arm stößt einen Angreifer zurück, während der andere Arm wartet und ihn zu umarmen scheint. Oder eine Hand stößt zurück, kann dies aber nicht tun, ohne zugleich das Handinnere darzubieten.“1 Das politische Handlungspotenzial der Geste wurde wiederholt in ihrem Potenzial an Widersprüchlichkeit, Performativität und Ambivalenz verortet.2 Der mehrdeutige Körper enthält auch eine mögliche Ebene der Subversion: Er kann die bezeichnenden (Macht-)Systeme insofern unterlaufen, als er sich vielfachen Bezeichnungen gleichzeitig darbietet. Dadurch eröffnet er ein Feld der Ungewissheit und provoziert ein Denken, das in „leibhafte Geistesgegenwart“3 gewendet, unvorhergesehene Handlungsräume nützt. In der Ausstellung richtet sich unser Interesse auf diese Gesten der Ambiguität, des Widersprüchlichen in künstlerischen Produktionen: In welcher Form wird dieses Denken eines Körpers, der Aussagen produziert und sich denselben gleichzeitig entgegenstellt, aufgegriffen? Wie also gerät die Geste ins Bild, und welche Implikationen haben die unterschiedlichen ästhetischen Setzungen für ein Verständnis von möglichem sozialen und ethischen Handeln? Der Filmemacher Jean Luc Godard wies immer wieder darauf hin, dass das Denken und der politische Handlungsraum in der Verbindung, also zwischen den Bildern, aber auch zwischen Bildern und Tönen liegt. Im Bezug auf die Geste, die immer auch in der Zeit gedacht werden muss, heißt dieser Zwischenzustand, der Zustand der Schwebe auch, dass die Aussage (noch) zu keinem Ende geführt ist, Bedeutungen (noch) nicht fixiert sind, die Bewegung kein Ziel hat und vor allem nicht vorschreibend wirkt. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten ist es wichtig, sich auf noch nicht zu Ende geführte Handlungen zu beziehen; aber auch zu sehen, ob sich Lücken, offene Stellen in abgeschlossen wirkenden Bewegungen ergeben, die neue Handlungsoptionen erschließen. Die Geste, auf den folgenden Seiten Der Katalog widmet sich den Handlungsmöglichkeiten in der Geste in unterschiedlichen Auslegungen: in der Erörterung ihrer Funktion im Rahmen der Genderkonstruktion im Kunstkontext bei Sigrid Adorf, in der Herausarbeitung der ethischen Möglichkeiten bei Giorgio Agamben und im Text von Anja Streiter in der Beschreibung der Arbeit von RegisseurInnen, die „vor ihren DarstellerInnen in Wartestellung gehen“, um dieses ethische und politische Potenzial der Gesten im Schauspiel zu erfassen. Eine banale und doch exzentrische Geste der Selbstinszenierung bei Garbo und Warhol führt schließlich aus dem Buch hinaus, aber auch zurück zur Frage nach den Produktionsund Lebensformen der Autorin, Jutta Koether, und der LeserInnen. * Dieser einleitende Satz, auch Titel der Ausstellung, ist der deutschen Übersetzung eines Textes von Gilles Deleuze entnommen: „Pierre Klossowski oder Die Sprache des Körpers,“ in: P. Klossowski, George Bataille u.a., Sprachen des Körpers. Marginalien zum Werk von Pierre Klossowski, Merve, Berlin 1979, S. 43. Eine frühere französische Fassung dieses Textes ist 1965 in der Zeitschrift Critique erschienen. 1 Gilles Deleuze, a.a.O., S. 43f 2 Hier verweisen wir nicht nur auf den bereits zitierten Text von Gilles Deleuze, sondern auch auf den im Katalog erneut abgedruckten Text von Giorgio Agamben, „Noten zur Geste“ (Erstveröffentlichung in: Politik und Postmoderne, edition diskord, Tübingen 1992, S. 97-107), hier ab S. 39 oder die Ausführungen von Norman Bryson zu Le Brun und Watteau in: Word and Image, Cambridge University Press, Cambridge 1981, S. 29-88. Im Weiteren wäre es interessant, Judith Butlers Ausführungen zur Unmöglichkeit von Identität in Körper von Gewicht, Berlin Verlag, Berlin 1995 auf die Idee der Geste zu übertragen. 3 Walter Benjamin, „Madame Ariane – Zweiter Hof Links“, in: Einbahnstraße, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1955, S. 115. Benjamin verweist mit diesem Begriff auf den Moment, als Scipio Carthago betritt und stolpert, dann aber im Fallen das Stolpern zu einer Geste des Sieges wendet, indem er die Arme hochreißt und ausruft: „Teneo te, terra Africana“.