Das Meer und Sardinien (E-Book, EPUB)

Das Meer und Sardinien

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Bibliographische Informationen
ISBN/EAN: 9783944561158
Sprache: Deutsch
Seiten: 270 S.
Auflage: 1. Auflage 2013
E-Book
Format: Digitale Rechteverwaltung: Adobe DRM

Leseprobe

Hinweis: Die Textdarstellung in dieser Datenbank entspricht nicht dem professionellen Satzbild des E-Books.Das Abteil war ziemlich vollgestopft. Die Leute kamen vom Markt zurück. Bei diesen Kleinbahnen ist das Dritter-Klasse-Abteil nicht unterteilt. Es ist offen, sodass man jeden wie in einem großen Zimmer sehen kann. Die hübschen Satteltaschen, die bercole, waren überall abgestellt, und die Leute hockten sich hin und plauderten munter miteinander. Meistens ist so eine Reise dritter Klasse am schönsten. Man hat Platz und hat Luft, es geht wie in einer lebhaften Wirtschaft zu, alle Welt ist guter Dinge.Wo wir saßen, hatten wir reichlich Platz. Im Gang uns gegenüber saß ein älteres Ehepaar wie zwei Kinder beisammen und fuhr glücklich heim. Er war fett, überall gut gepolstert, hatte einen weißen Schnurrbart und viele, liebenswerte Falten. Sie war groß, mager und braun, trug weite Röcke und eine schwarze Schürze mit aufgenähter Tasche. Sie trug nichts auf dem Kopf und hatte ihr eisengraues Haar sauber gescheitelt. Es machte ihnen offenbar Freude und war erregend für sie, im Zug zu reisen. Sie trug all ihr Geld in ihrer großen Tasche mit sich, zählte es und gab es ihm alle die Zehn-Lire-Scheine und die Fünf-Lire- und die Zwei- und die Ein-Lire-Scheine. Sie musterte die schmuddeligen Fetzen der rosa Einer, prüfte ihre Echtheit. Auch das Kupfergeld gab sie dem Alten. Er verstaute alles in seiner Hosentasche, wozu er aufstand, um das Geld an seinen feisten Beinen vorbei zu schieben. Da sahen wir erstaunt, dass ihm der Hemdenzipfel hinten heraushing, wie eine auf dem Rücken getragene Schürze. Warum das?Er war einer dieser dicken, gutmütigen, unbedenklichen Männer mit gebieterischen Gebärden, die meist besonders magere, große, folgsame Frauen mit harten Gesichtern haben.Sie waren sehr glücklich. Er sah uns erstaunt zu, wie wir heißen Tee aus der Thermosflasche tranken. Vielleicht hatte er auch gedacht, das sei eine Bombe. Er hatte blaue Augen und buschige weiße Brauen.'Wunderbar warm!' sagte er, als er den Dampf vom Tee aufsteigen sah. Das ist ein unvermeidlicher Ausruf. 'Schmeckts?''Ja', antwortete die BK. 'Sehr gut.' Und die beiden nickten zufrieden. Sie fuhren heim.Der Zug fuhr durch die nach Malaria aussehende Ebene am Meer, an verkümmerten Palmen und moscheeartigen Gebäuden vorbei. An einer Kreuzung winkte ein weiblicher Streckenwärter heftig mit einer roten Fahne. Wir rumpelten ins erste Dorf. Es war aus von der Sonne gedörrten Lehmhäusern errichtet und aus dicken Ziegelmauern mit Abzugsröhren für den Regen. In den Vorgärten standen dunkle Orangenbäume. Doch diese erdfarbenen Dörfer in ihrer lehmigen Trockenheit wirkten fremdländisch. Sie sahen der Erde selbst ähnlich wie Fuchsbauten, wie eine Ansiedlung für Steppenwölfe.Der Blick zurück lässt Cagliari auf seinem Felsblock erscheinen; sehr zierlich hebt es sich aus der See, die es von allen Seiten umschließt. Es fällt schwer, diese erdblasse Fläche als See zu erkennen.Bald geht es hügelan. Der Ackerbau wird spärlicher. Merkwürdig, wie die heidigen, moorigen Hügel ans Meer heranrücken; merkwürdig, wie struppig und unbewohnt diese weiten Flächen Sardiniens sind. Sardinien ist wild. Bewachsen mit Heide, mit Erdbeergestrüpp und einer brusthohen Myrtenart. Manchmal sieht man ein paar Stück Vieh, dann kommt wieder ein graufarbiger Flecken Acker, auf dem Korn wächst. Es gleicht Cornwall, der Landschaft von Lands End. Hier und da sieht man entfernt Bauern bei ihrer Arbeit in der einsamen Landschaft. Manchmal ist da in der Ferne nur ein Mann, der seine schwarz-weiße Tracht höchst lebendig zur Schau trägt, ganz winzig und weit weg, wie eine richtige Elster und seltsam deutlich. Der ganze, fremdartige Zauber Sardiniens liegt in diesem Anblick. Mitten in der niederen, moorhügeligen Landschaft, weit weg in einer Senke, erblickt man eine vereinzelte Gestalt, winzig, aber lebhaft schwarz-weiß, allein bei der Arbeit, als sei das so für alle Ewigkeit. Es gibt dort Flächen und Mulden von grauem Ackerland, das gut für Korn ist. Sardinien war einst ein großer Getreidespeicher.Gewöhnlich haben die Bauern im Süden ihre Tracht allerdings abgelegt. Gewöhnlich tragen sie das graugrüne, unscheinbare Soldatenkleid, das italienische Khaki. Wo man geht und steht, sieht man dieses Khaki, die graugrüne Kriegsbekleidung. Ich ahne nicht, wie viele Millionen Meter von dem festen, ausgezeichneten, aber hassenswerten Stoff die italienische Regierung aufgestapelt hat: sicher genug, um Italien mit einem Filzteppich zu bekleiden, soweit ich das sehe. Es ist überall. Es kleidet die dünnen Kinder mit steifen, einförmigen Röcken und Kitteln, es kleidet die ausgemergelten Väter, und manchmal kleidet es sogar die Frauen. Es ist ein Symbol des allgemeinen, grauen Nebels, der über die Menschheit gefallen ist, Symbol der Tilgung aller leuchtenden Individualität, des Anschlages auf alle wilde Vereinzelung. O Demokratie! O Khaki-Demokratie !Die Landschaft ist ganz anders als sonst in Italien. Italien ist stets fast dramatisch und vielleicht unveränderlich romantisch. Dramatisch sind die Ebenen der Lombardei, und romantisch sind die venezianischen Lagunen; fast alle Hügellandschaften der Halbinsel vibrieren vor szenischer Erregung. Vielleicht bringt das die natürliche Vielfalt der Kalksteinformationen mit sich. Doch die italienische Landschaft ist wirklich eine Landschaft des 18. Jahrhunderts. Sie eignet sich für eine Darstellung in der klassisch-romantischen Manier, die alles verzaubert und ihm eine lokale Farbe gibt: den Aquädukten und den Ruinen auf zuckerhutförmigen Bergen, den schroffen Schluchten und Wilhelm-Meister-Wasserfällen: so landauf, landab.Sardinien ist ganz anders. Es ist weiter und unansehnlicher; hier gibt es kein Auf und Ab, sondern alles verliert sich in der Ferne. Gleichgültige Kämme der moorigen Hügel gleiten vorbei, vielleicht gibt es im Südwesten ein paar dramatische Schroffen. Man hat ein Gefühl von Weiträumigkeit, das man in Italien vermisst. Liebliche Weite ringsum, entgleitende Entfernungen nichts endet, nichts ist endgültig. Es ist wie die Freiheit selbst nach der felsigen Vollkommenheit Siziliens. Ich brauche Raum für meinen Geist, viel Raum; dafür gebe ich alle Schroffen und Zacken der Romantik hin.Wir fahren durch den goldenen Nachmittag, durch eine weite, fast keltische Hügellandschaft, und unsere Kleinbahn windet sich und pufft ganz munter voran. Nur Heide und Gestrüpp, brusthoch, mannshoch, das für eine keltische Landschaft zu groß und räuberisch ist. Hin und wieder sieht man die Hörner schwarzer, wilder Rinder.Nach längerer Fahrt durch einen verlassenen Landstrich erreichen wir wieder einen Bahnhof. So ein Bahnhof sieht immer aus, als komme nun nichts mehr keine Ansiedlungen. Und immer wieder kommt ein neuer Bahnhof.Die meisten Leute haben den Zug verlassen. Und es geht zu wie mit Menschen, die im Einspänner über Land fahren und vor jedem Wirtshaus absteigen: Die Fahrgäste steigen gewöhnlich auf jedem Bahnhof aus, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Unser alter, dicker Reisegefährte steht auf, steckt sich behaglich sein Hemd in die Hosen, und diese Hosen lassen einen jedes Mal den Atem anhalten, denn sie scheinen jeden Augenblick herunterzurutschen. Und dann klettert er hinaus, und sein himmellanges, braunes Weib, diese Bohnenstange, folgt ihm.Der Zug wartet gemütlich fünf bis zehn Minuten, wie das die Züge so an sich haben. Schließlich wird gepfiffen und geblasen, unser dicker, alter Freund rennt und springt noch gerade wie eine feiste Krabbe am Zugende auf, während die Fahrt losgeht. Zugleich hören wir einen Schrei und eine Folge von Klagelauten draußen. Wir springen alle auf. Da, hinten auf den Gleisen, ist die lange, braune Bohnenstange von Frau zu sehen. Sie war nur eben zu Besuch in einem Haus ein paar hundert Meter entfernt gewesen, für ein kleines Schwätzchen nur, und dann sah sie den Zug abfahren.Man muss das gesehen haben, wie sie die Hände zum Himmel hebt und lauter als das Dampfen der Lokomotive wild 'Madonna!' schreit. Doch dann hebt sie die Röcke und saust mit ihren dünnen, graubestrumpften Beinen zu einem verrückten Rennen hinter dem Zug an, sinnlos. Vergeblich. Unerbittlich folgt der Zug seinem Kurs. Keuchend erreicht sie das eine Ende des Bahnsteigs, während wir das andere Ende hinter uns lassen. Dann wird ihr klar, dass der Zug nicht mehr für sie hält. Und dann, o Schrecken, wirft sie ihre langen Arme zu wilden Verwünschungen hinter dem entweichenden Zug in die Luft; sie fleht zu Gott. Und dann birgt sie in vollkommener Verzweiflung das Gesicht in den Händen. Das ist das Letzte, was wir von ihr sehen, wie sie fassungslos ihr Gesicht in den Händen birgt und vorwärts taumelt. Sie ist verlassen, sie ist aufgegeben.Ihr dicker, fetter Ehemann hing die ganze Zeit auf der kleinen Plattform am Zugende, streckte die Hand nach ihr aus, und schimpfte fürchterlich auf sie, schimpfte, der Zug solle anhalten. Aber der Zug hielt nicht an. Und sie bleibt verlassen, verlassen auf der gottverlassenen Station im schwindenen Licht.Mit hochrotem Gesicht, mit Augen rund und funkelnd wie zwei Sterne, außer sich vor Ärger, Kummer, Verdruss und Niedergeschlagenheit, kommt er, setzt sich auf seinen Platz, ratlos, starr, er hat die Sprache verloren. Unter diesem Ansturm widerstreitender Gefühle wird sein Gesicht recht schön. Für einige Zeit bleibt er von seinen Empfindungen völlig überwältigt. Dann gewinnen Ärger und Empörung die Oberhand. Mit einem Ruck wendet er sich dem langnasigen, spitzfindigen Schaffner zu, der wie ein Phönizier aussieht. Warum konnte der Zug für sie nicht eben anhalten! Und unmittelbar, als hätte jemand ihn in Brand gesteckt, flammt der Schaffner auf. He! Der Zug kann doch nicht zu Jedermanns Bequemlichkeit einfach anhalten! Zug ist Zug, und Fahrplan ist Fahrplan. Wie kam das alte Frauenzimmer dazu, hier Ausflüge zu unternehmen? He! Sie wird für ihre Torheit eben bestraft. Hat sie etwa für den ganzen Zug bezahlt? Und zwischendurch feuert der dicke Mann unentwegt seine stürmischen und kopflosen Antworten ab. Eine Minute nur! Eine Minute! Wenn er, der Schaffner nur dem Zugführer Bescheid gesagt hätte. Wenn der Schaffner gerufen hätte! Das arme Weib! Und kein Zug mehr! Was sollte sie nur anfangen! Und ihre Fahrkarte?! Keinen Pfennig hat sie bei sich. Ach, die arme Frau !Die Nacht führe noch ein Zug zurück nach Cagliari, erklärte der Schaffner. Darauf fuhr der Dicke fast aus der Haut wie ein berstender Maiskolben. Er fuhr vom Sitz hoch. Wozu das denn nutz sei? Was nütze ein Zug zurück nach Cagliari, wo sie doch in Snelli wohnten! Es sei ja alles noch schlimmer So fuchtelten sie und stritten und schimpften sich einander nach Herzenslust aus. Dann zog sich der Schaffner zurück und lächelte vertrackt, wie das so ihre Art ist. Unser fetter Reisegefährte sah sich mit heißen, verärgerten, beschämten, traurigen Augen um und fand, es sei eine Schande. Ja, wir stimmten ihm zu, es war eine Schande. Daraufhin näherte sich eine wichtigtuerische Dame, die uns erklärte, dass sie in Cagliari in einem collegio gewesen sei, und stellte eine Anzahl aufdringlicher Fragen mit einer Miene schnippischen Mitgefühls. Unser fetter, alleingelassener Gefährte bedeckte daraufhin nur sein verdüstertes Gesicht mit der Hand, kehrte der Welt seinen Rücken zu und versank in Schweigen.Das alles war so dramatisch gewesen, dass wir wider Willen doch lachen mussten, wenn auch die BK ein paar Tränen verlor.Die Reise dauerte Stunden. Wir erreichten einen Bahnhof, und der Schaffner forderte uns auf, auszusteigen: diese Wagen würden abgehängt. Nur zwei Wagen führen nach Mandas weiter. So lasen wir unsere Siebensachen auf, wie unser Dicker, ein Bild des Elends, seine Satteltaschen, und kletterten hinaus.Der Waggon, in den wir einstiegen, war dicht besetzt. Der andere Waggon führte durchweg Erster-Klasse-Abteile. Sonst bestand der Zug nur noch aus Güterwagen. Wir steckten also in zwei unbedeutenden Personenzugwaggons am Ende einer langen Reihe von Güterwagen aller Art.Wir setzten uns auf eine leere Bank, um nach fünf Minuten zu erfahren, dass eine alte Frau mit zwei Kindern ihren Enkeln den Kopf schüttelte, weil das ihre Bank war. Sie sagte uns nicht, warum sie ihren Platz verlassen hatte. Doch unter meinen Füßen lag ihr Bündel mit Brot. Sie schüttelte sich fast den Kopf ab. Und über uns, in dem kleinen Gepäcknetz, lag ihre bercola, ihre Satteltasche.Feiste Soldaten lachten sie gutmütig aus, aber sie flatterte und quengelte bissig herum, wie eine alte, federlose Henne. Doch da sie einen anderen Platz hatte, und dort ganz bequem saß, grinsten wir nur und ließen sie maulen. Da grapschte sie endlich ihr Brotbündel unter meinen Füßen hervor, packte es und packte eines der dicken Kinder; feindselig setzte sie sich.Es wurde ganz dunkel. Der Schaffner sagte uns Bescheid, das Paraffin sei ausgegangen. Wenn das in den Lampen verbraucht sei, müssten wir im Dunkeln sitzen. Auf der ganzen Strecke gab es kein Paraffin mehr. Und er kletterte auf eine Bank, und nach einem langen Hin und Her, bei dem verschiedene Burschen Streichhölzer für ihn anzündeten, gelang es ihm, ein erbsengroßes Licht zu entflammen. Wir saßen in diesem Clair-obscur und betrachteten die dunkel verschatteten Gesichter in der Runde: einen feisten Soldaten mit einem Gewehr; einen netten Soldaten mit riesigen Satteltaschen; ein seltsames, dunkles Männchen, das sich mit einer schweren Frau, die ein weißes Kopftuch trug, darin abwechselte, ein Baby auf den Schoß zu nehmen; eine stattliche Bäuerin in Tracht, die auf einen dunklen Bahnhof hinausstürmte und triumphierend mit einem Stück Schokolade wiederkehrte; einen aufmerksamen jungen Mann, der uns jede Station ansagte. Dann war da noch der Mann, der auf den Boden spie: So einen gibts immer.Langsam lichtete sich die Menge. Auf einem Bahnhof sahen wir unseren dicken, alten Freund davongehen, bitter, eine betrogene Seele, die Satteltaschen vorn und hinten herabhängend, aber jetzt war darin kein Trost mehr, keinerlei Trost. Das erbsengroße Licht der Paraffinlampe schrumpfte. Wir saßen in einer unvorstellbaren Dämmerung, in der Ausdünstung von Schafwolle und bäuerlichen Menschen neben dem dicken und stoischen jungen Mann, der uns die Stationen ansagte. Die anderen verschatteten Gesichter versanken langsam in ein totes, brütendes Schweigen. Einige schliefen ein, der kleine Zugratterte weiter und weiter durch die unbekannte, sardische Dunkelheit. Verzweifelt tranken wir den letzten Tropfen Tee und aßen die letzte Kruste Brot. Einmal mussten wir ja ankommen.Kurz nach sieben erreichten wir Mandas. Mandas ist ein Knotenpunkt; dort halten die Kleinbahnen an und haben nach ihrer mühseligen Kraxelei über Berg und Tal einen gemütlichen Schwatz miteinander. Wir hatten rund fünf Stunden für die 60 Kilometer gebraucht. Kein Wunder also, dass alle Welt, kaum war der Bahnhof erreicht, von den Sitzen hochfuhr und explosiv aus dem Zug schoss. Jeder raste los. Natürlich zum Bahnhofsrestaurant. Denn Mandas hat ein kleines Bahnhofsrestaurant, das einen blühenden Handel betreibt, sogar ein Bett kann man haben.An der Theke bedient eine recht hübsche Frau mit gescheitelten braunen Haaren, bräunlichen Augen, gebräunter Gesichtsfarbe und einem knapp sitzenden, braunen Samtmieder. Sie führt uns eine schmale Wendeltreppe hinauf, als ginge es in eine Festung. Sie ging mit der Kerze vor uns her und brachte uns auf unser Zimmer. Da roch es schlimm, säuerlich, wie verriegelte Schlafzimmer riechen. Wir rissen das Fenster auf. Vom Himmel starrten große, frostige Sterne boshaft herab.Im Raum stand ein riesiges Bett, in dem acht Personen Platz gefunden hätten. Auf dem Tisch, wo jetzt die Kerze stand, lag wahrhaftig ein Tischtuch. Aber das Tischtuch muss man sich vorstellen! Früher einmal war es wahrscheinlich weiß. Aber was immer es früher einmal war jetzt war es ein abgenutzter, löchriger Lumpen mit traurigen Tintenklecksen, armseligen, traurigen Weinflecken: eine Mumienhülle aus der Zeit 2000 v. Chr. Es hätte mich interessiert, ob man es noch hätte abnehmen können, oder ob es mit der Tischplatte zusammengebacken war. Ich ließ mich auf keinen Versuch, es herunterzuziehen, ein. Das Tischtuch beeindruckte mich tief. Es wies Verfallsstufen auf, an die ich noch nie gedacht hatte ein Tischtuch!Wir stiegen die Wendeltreppe zum Speisezimmer hinab. Auf einem langen Tisch standen Suppenteller, die offene Seite nach unten gekehrt. Eine Acetylenlampe gab nacktes, unfreundliches Licht. Wir setzten uns an den kalten Tisch und schon erstarb die Lampe. Das Zimmer tatsächlich aber ganz Sardinien war kalt, steinkalt, steinkalt! Draußen gefror die Erde. Drinnen war kein Gedanke an ein bisschen Wärme: der steinige Kerkerflur, steinige Kerkermauern, eine tote, leichenhafte Stimmung, die jede Regung belastete und einfror.Die Lampe erlosch, und die BK schrie auf. Die braune Frau schob den Kopf durch eine Durchreiche in der Wand. Hinter ihr flammte das Herdfeuer, und zwei Höllenfiguren rührten in den Töpfen. Die braune Frau kam und schüttelte die Lampe sie glich einer langweiligen Porzellanvase für ein Kaminsims , sie schüttelte kräftig und stocherte in ihren Eingeweiden herum, und tatsächlich brachte sie sie noch einmal in Gang. Dann tischte sie uns eine Schüssel dampfender Kohlsuppe auf, in der Makkaroni-Stückchen schwammen. Ob wir Wein wünschten? Mich schauderte bei dem Gedanken an eiskalten, roten Landwein, und ich fragte, was sie sonst bieten könne. Es gab malvagia, Malvasier, denselben alten Malvasier, den sich der Herzog von Clarence schmecken ließ. So ließen wir uns ein Glas Malvasier kommen und fanden Trost. Schließlich fühlten wir uns schon ganz wohl da ging die Lampe wieder aus. Wieder kam die braune Frau, schüttelte und stocherte und brachte sie wieder in Gang. Aber als ob sie uns bedeuten wollte: Doch nicht für euch! erlosch sie sofort wieder.Nun erschien der Wirt mit einer Kerze und einer Nadel ein großer, herzlicher Sizilianer mit herabhängendem Schnurrbart. Sorgfältig stocherte er mit seiner Nadel in dem Elendsding, schüttelte und drehte an kleinen Schrauben. Es flackerte wieder. Wir wurden langsam nervös. Er fragte uns nach unserem Woher, all das Übliche. Und plötzlich wollte er seine Augen funkelten auf wissen, ob wir Sozialisten seien. Ah! Er wollte in uns Gesinnungsgenossen und Parteigänger begrüßen! Ich sah ihm an, dass er uns für ein Paar bolschewistischer Agenten hielt. Er hätte uns sofort umarmt. Aber die BK verzichtete auf solche Ehren. Ich grinste nur und schüttelte den Kopf. Es ist ein Jammer, dass man die Leute immer um ihre Illusionen bringen muss.'Ach, wir haben schon viel zuviel Sozialismus!' rief die BK.'Aber vielleicht, vielleicht ' sagte der Sizilianer zurückhaltend. Doch die BK sah, wie der Hase lief, und fügte hinzu:'Si vuole un pochettino di socialismo: Ein kleines bisschen Sozialismus kann man schon brauchen, ein kleines bisschen. Nur nicht zu viel. Nicht jede Menge. Jetzt haben wir viel zu viel.'Der Wirt blinzelte mit den Augen bei diesen Reden, die für seinen heiligen Glauben das Salz in der Suppe waren, er glaubte wohl, die BK wolle ihm Sand in die Augen streuen, und hielt uns für ein Paar besonders Gerissene. Er ging. Kaum war er fort, richtete sich die Lampe zu ihrer ganzen Größe auf und begann zu pfeifen. Die BK fuhr zurück. Doch nicht genug damit, kam eine zweite Flamme rund um den Brenner heraus und flackerte wie ein peitschender Löwenschweif. Betroffen rückten wir ab. Die BK rief wieder. Der Wirt erschien mit listigem Lächeln und einer Miene voller Wohlwollen; er zähmte das Ungeheuer.Was gab es noch zu essen? Für mich ein Stück Schweinebraten, für die BK gekochte Eier. Wir waren gerade dabei, als der Abschluss dieser nächtlichen Unternehmung auf der Bühne erschien: drei Bahnbeamte, zwei mit scharlachroten Mützen, der dritte mit einer schwarz-goldenen Mütze. Geräuschvoll setzten sie sich, die Mützen auf dem Kopf, als stünde zwischen uns eine unsichtbare Wand. Sie waren jung. Der mit der schwarzen Mütze lächelte hämisch. Eine der Rotmützen war klein, ruppig, sehr jung und trug einen dünnen Schnurrbart; wir nannten ihn das Schweinchen, das vergnügte Wildschwein, denn er sah feist und wohlgenährt und knusprig aus. Der dritte war ein aufgeschwemmter, blasser Brillenträger. Alle drei kehrten uns die Schulter zu und schienen uns klarmachen zu wollen, dass sie niemals ihre Mützen absetzen würden, auch nicht bei Tisch und in Anwesenheit einer signora. Und sie unterhielten sich mit derben Witzen, als wäre da wirklich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen und uns.Ich entschloss mich, diese Mauer einzureißen, und wünschte einen guten Abend, es sei sehr kalt. Sie murmelten 'Guten Abend' und dass es in der Tat sehr frisch sei. Ein Italiener sagt nie, es sei kalt: fresco ist das Äußerste. Aber den Hinweis auf die Kälte fassten sie als Anspielung auf ihre Mützen auf, und sie wurden sehr still, bis die Frau mit der Suppenschüssel erschien. Dann redeten sie laut auf sie ein, was es denn zu essen gebe, und besonders das maialino, das Wildschweinchen, tat sich hervor. Sie empfahl Schweinesteaks. Sie verzogen die Gesichter. Vielleicht gekochtes Schweinefleisch? Sie seufzten, starrten düster vor sich hin, glätteten die Mienen wieder und gaben sich drein: also Steaks.Sie machten sich über die Suppe her. Nie habe ich durch Suppendampf hindurch ein fröhlicheres Trio suppenschlürfender Zecher beobachtet. Sie schlürften die Suppe von ihren Löffeln mit einem langen, genüsslichen Schlabbern. Maialino machte den Sopran, er trillerte die Suppe mit einem hohen, schlürfenden Tremolo, das nur durch kleine Kohlstücke unterbrochen wurde: Die Lampe drohte darüber auszugehen. Schwarzmütze machte den Bariton mit einem guten, rollenden Suppengeschlürfe. Der mit der Brille machte den Bass, er steuerte plötzliche, tiefe Rülpser bei. Die Leitmelodie stiftete das maialino mit seinem Getriller. Der Abwechslung halber schwenkte er zwischendurch den Löffel in der Hand, kaute einen Mundvoll Brot und schluckte es mit einem knallenden Getöse herunter, das die Zunge am Gaumen auslöste. Wir sagten als Kinder schnalzen dazu.'Mutter, sie schnalzt!' schimpfte ich ärgerlich über meine Schwester.Die Deutschen nennen es schmatzen.So schmatzte das maialino denn, wie Zimbeln schlagen, während Bariton und Bass weiter schlürften. Und wieder fiel auch der hurtige, hohe Sopran ein.Auf diese Weise schwand die Suppe allerdings schnell dahin. Die Schweinesteaks wurden aufgetischt. Das Trio arbeitete mit Zimbeln und Kastagnetten. Sieghaft sah maialino in die Runde, er schmatzte alle in Grund und Boden.Das Landbrot ist recht derb und braun und hat eine harte, harte Kruste. Auf jeder feuchten Serviette liegt so ein Brocken. Maialino brach seinen Brocken und warf einen missmutigen Blick auf Schwarzmütze, der ein sonderbares, dreieckiges, ganz weißes Weizenbrötchen hatte. Damit stach er alle anderen aus.Die Schwarzkappe wandte sich plötzlich an mich. Woher, wohin, warum? Aber er fragte in einem hämisch hinterhältigen Ton.'Ich liebe Sardinien!' rief die BK.'Warum?' fragte er sarkastisch. Das suchte sie nun herauszufinden.'Doch', sprang ich ihr bei, 'ich mag die Sarden lieber als die Sizilianer.''Warum?' fragte er sarkastisch.'Sie sind offenherziger würdiger.' Mir schien, dass er die Nase rümpfte.'Unser Wirt ist Sizilianer', sagte maialino, stopfte sich eine Brotkruste in den Mund und ließ wie ein vergnügtes, wohlgenährtes Wildschweinchen seinen Blick um die Runde laufen. Unsere Unterhaltung kam nicht recht vom Fleck.'Waren Sie in Cagliari?' fragte der Schwarzbemützte, es klang wie eine Drohung.'Gewiss! Es gefällt mir gut Cagliari ist herrlich!' rief die BK, die immer ein Näpfchen zerlassene Butter für ihre Pastinaksoße mit sich führt.'Ja Cagliari ist soso; doch, es ist ganz ordentlich', stimmte Schwarzmütze zu. 'Cagliari è discreta.' Darauf war er offenbar stolz.'Ist Mandas auch hübsch?' fragte die BK.'Was soll hier hübsch sein?' fragten sie ganz sarkastisch zurück.'Gibt es hier was zu sehen?''Ach je!' Maialino tat es kurz ab. Die Haare sträubten sich ihnen bei der Frage, ob Mandas hübsch sei.'Was fängt man hier an?' fragte die BK.'Niente! In Mandas kann man gar nichts anfangen. In Mandas geht man ins Bett, wenns dunkel wird, wie ein Huhn. In Mandas läuft man wie ein verirrtes Schwein über die Straße. In Mandas sind die Ziegen klüger als die Menschen. In Mandas braucht man den Sozialismus 'Sie riefen alle durcheinander. Offensichtlich war Mandas ärger, als Fleisch und Blut ertragen konnten, jedenfalls für diese drei Verschwörer.'Sie langweilen sich hier also?' sagte ich.'Ja.'Und die ruhige Dringlichkeit dieses baren Ja sprach Bände.'Wären Sie lieber in Cagliari?''Ja.'Schweigen, dichtes, bösartiges Schweigen war eingekehrt. Die drei sahen einander an und machten einen saueren Witz über Mandas. Dann wandte sich Schwarzmütze wieder zu mir.'Können Sie das Sardische?''Ein wenig. Mehr als das Sizilianische jedenfalls.''Aber Sardisch ist schwerer als Sizilianisch. Es hat viele Wörter, die das Italienische nicht kennt.''Gewiss', sagte ich. 'Aber hier wird deutlich, in klaren Worten gesprochen. Die Sizilianer verschleifen alles, da kommt kein einziges Wort deutlich heraus.'Er sah mich an, als sei ich ein Heuchler. Doch was ich sagte, stimmt. Ich finde es ziemlich leicht, das Sardische zu verstehen. Tatsächlich ist das mehr eine Sache des menschlichen Verständnisses als der Laute, Sardisch wirkt offenherzig, männlich und gradsinnig. Das Sizilianische ist klebrig und ausweichend, als rückten die Sizilianer nicht gern mit der Sprache heraus. Das tun sie auch nicht gern. Der Sizilianer hat eine überkultivierte, empfindliche, uralte Seele, und er hat ein so vielschichtiges Gemüt, dass er sich zu einer einheitlichen Gesinnung nicht entschließen kann. Er hat ein Dutzend Gesinnungen, und zum Unglück weiß er das auch, und wenn er sich zu einer davon bekennt, dann spielt er sich oder dem, der ihn fragt, nur einen Streich. Der Sarde nun wirkt gradsinnig. Hier zum Beispiel stoße ich auf einen gradsinnigen, handfesten Glauben an den Sozialismus. Der Sizilianer hat eine viel zu alte Kultur, um sich dem Sozialismus ganz zu verschreiben. Er ist zu alt und rusé, um nicht zu spitzfindig für jede Art von Glauben zu sein. Er fährt wie eine Rakete los; aber dann glüht er spröde und skeptisch gegen das eigene Feuer an. Im Rückblick mag man ihn wohl. Aber im täglichen Leben ist er unerträglich.'Wo haben Sie denn das weiße Brot her?' frage ich die Schwarzmütze, weil sie so stolz darauf ist.'Von zu Hause.' Er erkundigt sich nach dem Brot auf Sizilien. Ist es weißer als diese Brocken aus Mandas? Doch, ein bisschen weißer schon. Da müssen sie wieder brüten. Es ist ein empfindlicher Punkt, dieses Brot. Brot bedeutet für den Italiener viel: Es ist wirklich sein Lebenselixier. Praktisch lebt er nur von Brot. Aber statt nach dem Geschmack zu gehen, lässt er sich nun wie alle Welt von den Augen leiten. Er hat sich in den Kopf gesetzt, Brot müsse weiß sein, und jeder dunkle Schatten in seinem Brot wirft einen Schatten auf seine Seele. Ganz unrecht hat er damit nicht. Ich mache mir persönlich nichts mehr aus Weißbrot; aber mein dunkles Brot soll aus reinem, unvermischtem Mehl gebacken sein. Die Bauern in Sizilien, die sich ihr eigenes, natürliches Brot aus ihrem eigenen Weizen backen, haben ein herrlich frisches und süßes und sauberes Brot. Es duftet so köstlich, wie das hausgebackene Brot der Vorkriegszeit. Während das Gemeindebrot aus dem behördlich zugeteilten Mehl hart ist und derb und grob. Es kratzt am Gaumen. Man wird seiner ganz überdrüssig. Ich hege den Verdacht, dass es mit Maismehl vermischt wird. Aber sicher weiß ich das nicht. Und natürlich wechselt die Güte des Brotes von Stadt zu Stadt und von Gemeinde zu Gemeinde. Die sogenannte gerechte und gleiche Verteilung ist Schwindel. An einem Ort gibt es gutes, schmackhaftes Brot im Überfluss, und woanders wird kümmerliches, armseliges, grobes und hartes Zeug zugeteilt. Und die Armen leiden wirklich bitter unter dieser Brotzuteilung, denn ihre ganze Ernährung hängt davon ab. Sie beschuldigen die Camorra la grande camorra wegen der Unregelmäßigkeit und Ungerechtigkeit der Verteilung. Sie ist heute nichts anderes mehr als ein habgieriger Ringverein, den die Armen hassen. Ich kenne mich selbst nicht aus. Ich weiß nur, dass eine Stadt Venedig einen unendlichen Überfluss an gutem Brot, an Zucker, Tabak und Salz hat, während in Florenz dauernde Empörung herrscht über die Dürftigkeit der Zuteilung all dieser herrlichen Sachen. Alle sind Regierungsmonopol und dementsprechend verwaltet.Wir sagten unseren drei Freunden von der Eisenbahn gute Nacht und gingen zu Bett. Wir waren erst zwei, drei Minuten in unserem Zimmer, als die braune Frau klopfte: Wenn es uns recht sei, Schwarzmütze schicke uns eines seiner kleinen, weißen Brötchen. Wir waren wirklich gerührt. Solche kleinen, liebenswerten Gefälligkeiten sind aus der Welt verschwunden.Es war ein merkwürdiges, kleines Brötchen dreieckig und fast so hart wie Schiffszwieback. Aus Stärkemehl gebacken. Eigentlich war es gar kein Brot.

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